Geburt
Mein Name ist Cassandra, ich bin in einer Milchviehherde oberhalb des Zürichsees am 25.5.2010 geboren.
Meine Abstammung liess Grosses von mir erwarten, mir wurde ein langes Leben mit in die Wiege gelegt, schliesslich stammte ich einer alten, grossen Kuhfamilie mit besonders langlebigen Kühen ab. Sogar meine Grossmutter durfte ich noch kennen lernen. Und meine Mutter gehörte zu den schönsten Kühen im Stall.
Nach einer schönen Zeit im Kuhkindergarten, wo ich mit gleichaltrigen Kälbern den ganzen Tag spielen konnte, nahm mein Bauer mich eines Tages, zusammen mit 2 Freundinnen, mit in die Berge. Die Aussicht da war wunderschön. Doch etwas traurig waren wir schon, als wir dann erfuhren, dass wir hier bleiben sollten. Zu Hause ist es schliesslich immer noch am Schönsten.
Bergzeit
Doch das war bald vergessen, über 2 Sommer konnten wir auf riesigen Bergweiden spielen, an einem Tag konnte ich kaum rund um die Weide rennen, so gross war diese. Über den Winter wurde es sehr kalt, und es fiel sehr viel Schnee, da waren wir dann froh, dass der Bergbauer einen warmen Stall hatte, wo wir uns verkriechen konnten.
Mit etwa 2 Jahren spürte ich zum ersten Mal einen Tritt des Kälbleins, das in mir heranwuchs. Ich freute mich schon riesig auf mein erstes Kind! Etwas traurig war ich nur, dass meine Mutter und meine Grossmutter es wohl nicht sehen würden. Der Talbauer vom Zürichsee schien jedoch meine Sorge zu ahnen, und er holte mich rechtzeitig bevor ich kalberte von den Bergen zurück. Beim Einsteigen in den Viehanhänger hörte ich noch wie sich der Talbauer und der Bergbauer unterhielten. Ich werde jetzt noch rot, wenn ich mich zurückerinnere, wie die Beide von mir geschwärmt haben. Der Talbauer meinte sogar, ich sei noch schöner als meine Mutter.
Wieder Zuhause - Geburt meiner Tochter
Zuhause angekommen bestätigten mir dann dies auch die begehrenden Blicke des Stiers, ich glaube er heisst Dachs.
Voller Stolz konnte ich am 19.6.2012 eine Tochter gebären. Der Bauer taufte sie auf den Namen Damoria.
Ab diesem Zeitpunkt durfte ich in der grossen Herde mitlaufen, zusammen mit meiner Grossmutter und meiner Mutter. Das war schön, aber auch sehr hart, denn es gab immer andere Kolleginnen, die mir zeigen wollten, dass sie stärker waren als ich. Was ich in den letzten 2 Jahren beim rumtollen geübt hatte, konnte ich jetzt gut gebrauchen.
Es gab jedoch eine Kuh, die war allen Anderen gegenüber im Vorteil, denn auf ihrem Kopf waren ganz spitzige Stacheln. Die meisten Kühe mieden sie, es war ihnen zu gefährlich, denn manchmal setzte sie diese Stacheln ein um ihre Rangkämpfe zu gewinnen.
Der Schmerz begann
Am 8.11.12 geschah es, ich war gerade von einer Ausstellung zurück, wo ich mich mit den schönsten Kühen der Region messen konnte. Voller Stolz berichtete ich einer Jugendfreundin, die ich von den Bergen her kannte und die mittlerweile auch in der Herde angekommen war, von meinem Erlebnis. Leider war ich dabei in der Mitte des Stallganges, und die Kuh mit den Stacheln wollte vorbei.
Unabsichtlich hat sie mich dabei aber etwas fester gestossen, als sie es selber wollte. Ein brennender Schmerz jagte mir von der Brust bis in den Kopf! Überall war Blut... Ich schrie! Meine Freundinnen kamen alle gucken was ich hatte, ...oberhalb meines Ellbogens klaffte ein riesiges Loch! Mit Müh und Not schleppte ich mich zur nächsten Liegeboxe, jeder Schritt tat weh.
Am Abend kam der Bauer in den Stall. Als er die Boxenpflege machen wollte, merkte er, dass etwas mit mir nicht stimmte. Sogleich redete er mit einem kleinen Apparat, den er in einer Tasche hatte. Nicht lange, aber sehr erregt... Kaum war er damit fertig, zwang er mich zum aufstehen, ... ich wollte nicht, .... die Schmerzen waren zu gross. Der Bauer verschwand und kam wieder mit einem anderen kleinen Apparat zurück, er redete mir nochmals gut zu, ich solle doch aufstehen... doch die Schmerzen, ... ich wollte nicht! ... Da hielt er mir das neue Gerät an den Körper, sogleich durchfuhr mich ein Blitz, ... alles tat weh, ... jetzt schrie der Bauer fast... Ich solle doch endlich aufstehen, ... nochmals ein elektrischer Schlag, ... mit letzter Kraft zwang ich mich zum Aufstehen, ... der Bauer beruhigte sich wieder ein wenig, ... er führte mich aus dem Stall, ... jeder Schritt tat weh, ... wieso quälte mich der Bauer so, ... in den Bergen hatte er mich doch noch so stark gelobt, ... war es weil ich an der Viehausstellung vom Vortag nicht gewonnen hatte?
Draussen stand eine Frau. Wir alle hier hassten sie. Immer, wenn sie kam, wurden einige von uns von ihr gequält. Manchmal langte sie uns sogar hinten rein. Sie untersuchte dieses Mal auch mich.
Ausgerechnet dort, wo es so schmerzte, schaute sie ganz genau hin. Wieso mussten sie mich blos so quälen?
Einsamkeit
Nach diesem Horrorabend führte mich der Bauer in eine eigens für mich eingestreute Box. Wie früher als Kälblein war darin alles schön weich mit Stroh gepolstert. 2 Monate lang musste ich ganz alleine in dieser Box bleiben. Der einzige Trost war, dass ich die Herde von meiner Box aus sehen konnte. In diesen 2 Monaten verlor ich vor lauter Trauer und auch aus Erschöpfung mein 2. Kalb, das in mir heranwuchs. Mit der Zeit ging jedoch das Laufen wieder besser, die Wunde begann zu verheilen. Der Bauer und die Frau umsorgten mich in dieser Zeit. So schlimm war sie gar nicht... Immer nachdem sie hier war, ging es mir etwas besser. Der Bauer nannte sie "Frau Doktor".
Es geht zu Ende
Nach 2 Monaten durfte ich endlich wieder zurück in die Herde. Ganz gut war es zwar noch immer nicht, doch es ging. Durch die Verletzung hatte ich einen harten Knollen unter meiner Schulter... Bei jedem Schritt musste ich das Gewicht auf die andere Schulter verlagern. So wohl wie früher fühlte ich mich noch nicht.
Die Kuh, mit den Stacheln, hatte nun keine Stacheln mehr, nur noch kleine Stummel. Sie kam gleich am Anfang zu mir und entschuldigte sich tausendmal dafür, was sie mir angetan hatte. Sie sagte mir, dass einen Tag nachdem ich in die Strohbox gehen musste, die Frau Doktor nochmals gekommen sei. Mit einem Eisendraht hätte sie ihr beide Hörner abgesägt. Es sei ein ganz komisches Gefühl gewesen, doch jetzt könne sie sich viel freier bewegen und auch die anderen Kühen akzeptierten sie nun in der Herde.
Das Ende
Wie gesagt, ganz erholt habe ich mich von der Verletzung nie wieder. Durch die Verletzung hatte meine Gesundheit zu stark gelitten. Am 18.3.2013, mit nicht ganz 3 Jahren, hatte ich einen Darmverschluss. Alle Hilfe kam dieses Mal zu spät, selbst die Ärzte im Tierspital konnten mir nicht mehr helfen. Der 19.3.2013 war mein letzter Tag auf dieser Welt.
Etwas Trost
Einziger Trost bleibt, dass mein einziges Kind, Damoria, ganz sicher in einem Stall ohne Stacheln leben wird. Denn ich habe gehört wie mein Bauer zur Frau Doktor sagte: "Das war die letzte Kuh mit Hörnern... Von jetzt an werden allen Kühen, die noch Hörner haben, wenn sie in den Stall kommen, die Hörner abgesägt!"